Deutsche Gründlichkeit vs. russische Pragmatik
Im Jahr 2015 war ich mit meinem Mann Joe und meiner besten Freundin Sarah zum ersten Mal im Winter in Sibirien. Es ist Ende Januar, Anfang Februar. Die Eisdecke des Baikalsees ist zu dieser Zeit komplett verschlossen. Wir haben eine Woche Wandern über das Eis geplant. Unser Guide heißt Dima. Er ist groß, kräftig, attraktiv und spricht gut Deutsch. Er wird uns in dieser Woche über das Eis führen, uns navigieren und mit allem lebenswichtigen Dingen unterwegs versorgen.
Wir wandern über den See und stellen fest wie viele unterschiedliche Formen diese Eisoberfläche bietet. Manchmal haben wir das blanke Eis unter den Füßen, indem eingeschlossene Luftblasen zu erkennen sind und das von meterlangen Spalten durchzogen wird.
Ein anderes Mal arbeiten wir uns durch kilometerlange Eisverwerfungen mit spitzen Eiskanten. Wieder ein anderes Mal ist der See mit einer kleinen Schneeschicht bedeckt, so dass das Eis selbst gar nicht zu sehen ist.
Immer wieder bewundern wir fasziniert wie diese riesigen Eisflächen von den Einheimischen als Straße benutzt wird. Die Eisstraßen sind teilweise sogar sehr breit, so dass rein theoretisch auch zwei Autos nebeneinander fahren könnten. An Kreuzungen sind manchmal Schilder aufgestellt und zwischendrin weisen immer wieder kleine Bäume, die im Eis festgefroren wurden, den Autofahrern den Weg.

Während wir dies nun alles beobachten stellen sich mir einige Fragen, die ich gerne von Dima beantwortet bekommen möchte: „Dima sag mal, woher genau erfahrt ihr wie dick das Eis ist, bzw. woher wisst Ihr ob das Eis im Frühling die Last der Autos noch trägt und wie werdet Ihr darüber informiert?“
In meiner Vorstellung hatte ich mir bereits mehrere Antworten zurechtgelegt. Am wahrscheinlichsten war für mich jedoch, dass jeden Morgen ein Mensch zum See geht, die aktuelle Dicke der Eisdecke misst und das Ergebnis bzw. die entsprechende Warnung dann per Radio, Funk oder sonst irgendwie verbreitet wird. Ich warte noch immer auf eine Antwort von Dima und denke; na ja vielleicht hat er meine Frage nicht so ganz verstanden. Hatte er auch nicht. Ich formulierte meine Frage also noch einmal etwas verständlicher und erhalte wieder einen langen nichtssagenden Blick von Dima. Dann ein Schulterzucken: „Woher wir wissen ob das Eis noch befahrbar ist meinst du, Ja? Na, wenn der erste einbricht.“
Bei einer anderen Gelegenheit haben wir erneut Grund zum Schmunzeln. Den ganzen Tag schon ziehen wir tapfer unsere Schlitten inclusive Gepäck übers Eis. Wir sind erschöpft und zugleich unglaublich gespannt. Heute Nacht erwartet uns ein echtes Highlight dieser Reise: Eine Nacht im Zelt auf dem Eis des Baikalsees.
Am späten Nachmittag erreichen wir eine Insel. Im Schutz einer kleinen Bucht werden zwei Zelte aufgeschlagen. Wir drei sammeln Holz und Dima bereitet für uns ein Lagerfeuer. Joe und ich beobachten dabei, wie Dima immer wieder kleinere plastikbeschichtete Bonbonverpackungen aus seiner Jackentasche ins Feuer wirft.

Die Dunkelheit legt sich über den See und es wird richtig kalt. Wir drei krümeln uns so nah wie möglich an das Lagerfeuer.
Dima beginnt für uns zu kochen. Für alle gibt es Wodka im Überfluss und die Stimmung ist prächtig. Heute gibt es Tütensuppe mit Thunfisch. Wir sind dankbar für dieses warme Abendessen in dieser so kalten und unwirklichen Umgebung.
Dima öffnet die kleinen Fertigpackungen und mischt weitere Nudeln dazu. und packt am Ende den Müll vorbildlich ordentlich in einer Tüte zur Seite. Gut. Zu guter letzt öffnet er die Thunfischdose und was passiert? Schwupps landet die leere Dose im Feuer. Mein Mann und ich öffnen den Mund und wollen demonstrieren. Unsere Sarah bebt schon vor Aufregung.
Jedoch kommt Dima uns mit einem Hundeblick zuvor und fragt ganz betropst: „WAS, das war doch kein Plastik?“